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persönlicher Kommentar

„Wir leben in einer Demokratie“ Wirklich?

Kommentar zum Demokratiedefizit in Deutschland

Die aktuelle öffentliche Debatte über ein AfD-Verbotsverfahren nimmt Fahrt auf. Wie gut oder schlecht auch immer politische Debatten in Deutschland sind – wenn am Ende schon das Ergebnis feststeht, sollte man es besser lassen und sich (aktuell) wichtigeren Themen widmen. Auf über 1000 Seiten soll ein Gutachten des Verfassungsschutzes anhand von öffentlichen Quellen nun „beweisen“, dass die AfD als staatsgefährdend eingestuft werden muss um den Systemsturz zu verhindern. Dass viele Mitglieder (und Wähler) der AfD extremistisches Gedankengut pflegen ist lange bekannt. Aber welche „Beweise“ nun für eine „Bedrohung der Demokratie“ angeführt werden, ist an Lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten. Dabei geht es mir nicht um die Aussagen selbst, die von AfD-Funktionären öffentlich gemacht wurden, denn ich teile diese Gedanken nicht und lehne sie mehrheitlich in ihrem unausgesprochenen Unterton ab. Verfassungsschützer müssen sich aber an Fakten halten um zu einer Einschätzung zu kommen und dürfen sich nicht von subjektiven Gefühlen leiten lassen. Die hier vorgebrachten „Beweise“ für eine angebliche Zerstörung unserer Demokratie sind mehrheitlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. „I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it” wurde erstmals von Evelyn Beatrice Hall 1906 unter dem Pseudonym S.G. Tallentyre in “The friends of Voltaire” veröffentlicht. Dieser Satz von Hall war ursprünglich eine Zusammenfassung der Gedanken Voltaires, die seither fälschlicherweise Voltaire persönlich zugeschrieben worden sind. Seine Einstellung zur Meinungsfreiheit legte Voltaire 1765 in „Questions sur les Miracles“ zugrunde:
„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, das man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“
Im Original wird oft nur der erste Satz zitiert: Le droit de dire et d´imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans execer la tyrannie la plus odieuse.“ Auch die auf dem europäischen Kontinent viel beschworene Pressefreiheit entstammt den aufklärerischen Gedanken Voltaires. Im Zusammenhang mit Demokratiedefiziten in der Bundesrepublik Deutschland hat für mich aber auch der zweite – und leider recht unbekannte – Satz Voltaires eine zentrale Bedeutung: die „Souveränität“ eines freien Menschen, die uns von Grund auf zukommt, liegt auch darin begründet, seine Meinung „schriftlich“ sagen zu dürfen. Der unveränderbare Artikel 20 des Grundgesetzes, Absatz 2, besagt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehbaren Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Die „Volksherrschaft“ (demokratía) bezeichnet also eine Form der Herrschaftsorganisation auf der Grundlage der Teilhabe aller Bürger an der politischen Willensbildung. Diese Willensbildung des Volkes kann nur durch allgemeine, freie und geheime Wahlen zustande kommen. Parteien, Politiker und Juristen, die für ein AfD-Verbot plädieren, entziehen damit 20% der deutschen Bevölkerung ihre Souveränität – und zwar zusätzlich zu demjenigen Anteil der Bevölkerung, die an freien und geheimen Wahlen partizipieren und ihre Stimme regelmäßig Kleinparteien jenseits der 5% geben. Genauso wie Teile des Volkes am rechten und linken Rand „Protest“ wählen, wählen auch Bürgerinnen und Bürger „Protest“, wenn sie ihr Kreuz bei Kleinparteien der politischen Mitte machen. „Protest“ durch Wahlen – der schriftlichen Meinungsäußerung nach Voltaire – ist immer ein legitimes Mittel der Willensbildung eines Volkes. Verbietet der Gesetzgeber die Parteien des „Protests“ an der politischen Willensbildung direkt und indirekt (durch Einzug ins Parlament, aber in der Oppositionsrolle) mitwirken zu lassen, etwa durch Parteiverbote oder der Aufrechterhaltung einer Prozenthürde, dann entzieht der herrschende Staatsapparat über einem Viertel seiner Bundesbürger die Souveränität. Mit drastischen Worten ausgedrückt: ein Viertel der Menschen in Deutschland ist nicht frei und unterliegt „abscheulichster Tyrannei“, wenn man die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl zugrunde legt. 
Demokratiedefizite bestehen in einer repräsentativen Demokratie immer. Aber je repräsentativer und je indirekter unsere Demokratie sich entwickelt, desto mehr wird „Protest“ gewählt. Nicht einmal der politisch bedeutungslose, sondern nur mit Repräsentationsaufgaben überhäufte Bundespräsident darf in einer repräsentativen Demokratie in Deutschland vom Volk direkt gewählt werden. Das Staatsmodell einer direkten Demokratie hat es in der Bundesrepublik immer schwerer. Der Grund ist nicht, dass die deutsche Bevölkerung keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hätte – der Grund ist, dass die politischen Repräsentanten des deutschen Staates dem Volk nicht zutrauen, in den letzten 80 Jahren dazugelernt zu haben. Dieses Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk führt zu der dauerhaften Vermeidung direkter Demokratie und der dauerhaften Installation einer politischen Repräsentanz-Elite. Aus diesem Grund – und davon bin ich überzeugt – scheitert die demokratische Kleinpartei ÖDP regelmäßig bei ihren Klagen gegen die 5%-Hürde. Denn nicht nur innerhalb der Partei gelten basisdemokratische Prinzipien, sondern die ÖDP will basisdemokratische Strukturen für alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. „Direktdemokratie“ ist Teil unserer politischen DNA. Zusätzlich mit unserer Unabhängigkeit vom Profitlobbyismus und unserer Konzernspendenfreiheit „sprengt“ die ÖDP das politische Establishment genauso wie eine selbsternannte Alternative, vor der man keine Angst haben müsste, wenn man sie endlich politisch stellte. Denn sicher ist, dass es nicht sicher ist inwieweit die AfD rechtsextremistisch ist nach diesen gesammelten öffentlichen Meinungsäußerungen auf über 1000 Seiten. Mit absoluter Sicherheit hingegen lässt sich die politische Konzeptlosigkeit und der Lobbysumpf dieser Partei feststellen, denen man mit politischer Arbeit die Wählerschaft entziehen kann. Ein Parteiverbot spielt dem „Opfermythos“ der AfD in die Hände und macht sie zu selbstredenden politischen „Märtyrern“, die darauf abzielen, den vielfältigen politischen Protest komplett in sich zu vereinen. Leben wir also in einer Demokratie, wie es der Unternehmer Wolfgang Grupp jüngst bei einem TV-Auftritt behauptete und die Brandmauerdebatte wieder neu entfachte? Oder leben wir vielmehr in einer defizitären repräsentativen Demokratie, die sich immer mehr zu einer Elitedemokratie entwickelt? Als ÖDP-Mitglied kann ich den Aussagen des CDU-Mitglieds und Unternehmers Wolfgang Grupp nur widersprechen und lege mich mit den Worten von Professor Rainer Mausfeld fest, der klar sagt wo unsere Demokratie steht: „Am Abgrund“. 

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Wichtiger Hinweis:
Blogbeiträge stellen die persönliche Meinung einzelner Parteimitglieder dar. Diese kann in Einzelfällen von der Programmlage der Partei abweichend sein. Auch ist es möglich, dass zu einzelnen Themen und Aspekten in der ÖDP noch keine Programmlage existiert.